Der Bau der neuen Wilhelmsburger Reichsstraße
*** Michael Rothschuh
***Demonstration 31.10.2009 gegen die Autobahnpläne (Wilhelmsburger Reichsstraße als Autobahn und Hafenquerspange)***
Die „Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße“ wird in diesen Tagen gefeiert als vermeintliche Wohltat für die Wilhelmsburger*innen. Sie sollte vor der Internationalen Gartenschau 2013 fertig sein und 67 Millionen Euro kosten. Jetzt wird sie – vielleicht – 2019 fertig gestellt und kostet – mindestens – 235 Mio. Euro. Durchgesetzt werden konnte sie nur mit unzutreffenden Behauptungen über Zeiten und Geld.
Autobahnpläne des schwarz-grünen Senats (2008-2010)
2008 gab es unter Ole von Beust (CD) den ersten schwarz-grünen Senat. Stadtentwicklungs- Umwelt- und Verkehrssenatorin war Anja Hajduk (GAL/Bündnis 90/Die Grünen), die kurz vor den Wahlen gedroht hatte, nur durch die Wahl der Grünen sei eine Autobahn Hafenquerspange zu verhindern.
Die neue Koalition aber vereinbarte dazu im Vertrag vom 17.April 2008 unter der Überschrift „Hafenquerspange“
- „Es sollen innerhalb von 3 bis 6 Monaten Lösungen für zwei Ost/West-Straßenverbindungen anhand folgender Kriterien geprüft werden:
- eine möglichst geringe finanzielle Belastung bei günstigem Finanzschlüssel Hamburg/ Bund
- keine aufgeständerte Lösung über den Spreehafen…
- Auswirkungen auf eine angestrebte Verlagerung oder Rückbau der Wilhelmsburger Reichsstraße (WRS)…
- Die GAL vertritt die Auffassung, dass bei zwei Straßen die Nordtrasse als ertüchtigte Stadtstraße und die Südtrasse als Autobahn gebaut wird.“
Knapp ein Jahr später, im März 2009, legte die Senatorin die konkreten Pläne vor:
- Eine Hafenquerspange als Verlängerung der Autobahn A26 von Moorburg über die Süderelbe, parallel zur Hohen Schaar und Kornweide durch Wilhelmsburg bis hin zur Autobahn A1 in Stillhorn
- Die Verlegung der WRS (B75) an die Bahntrasse und ihr Ausbau auf Autobahnstandard.
- Fertigstellung der neuen WRS vor der Eröffnung der Internationalen Gartenschau 2013, damit das Gelände nicht durch die Straße geteilt wird.
Wie bekommt man den Bund dazu, dies zu bezahlen?
Als oberstes Kriterium für eine Lösung hatte sich die schwarz-grüne Koalition auf einen „günstigen Finanzschlüssel Hamburg/Bund“ festgelegt, sprich: der Bund zahlt möglichst viel, Hamburg möglichst wenig.
Damit ist die Forderung der GAL/Grünen nach einer Autobahn im Süden begründet, denn Autobahnen zahlt ganz überwiegend der Bund. Dafür musste man aber auf den Bundesverkehrswegeplan setzen, der dann 2016 die Hafenquerspange als A26-Ost in den vordringlichen und damit grundsätzlich finanzierbaren Bedarf aufgenommen hat.
Für die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße dagegen erschien der Weg über den Bundesverkehrswegeplan als zu langwierig und riskant. Denn dann brauchte man
- eine Nutzen-Kosten-Rechnung,
- eine Linienbestimmung und damit
- Parlaments- und Bürgerbeteiligung.
Sehr viel Initiative bei der Lösungsfindung zeigte Oberbaudirektor Jörn Walter. Bevor die Pläne in Wilhelmsburg in größerer Öffentlichkeit diskutiert wurde, machte er sie auf Tagungen zu seinem persönlichen Anliegen, so auf einem Dresdener Kongress im September 2008:
„Wie gehen wir eigentlich mit den großen Verkehrstrassen um? …Die Aufgabe ist es, diese Trasse, Wilhelmsburger Reichsstraße heißt sie, im Jahre 2013 vom Park zu besetzen und das Ziel ist, aus den drei großen zerschneidenden Trassen nur zwei zu machen und statt zwei nur eine Lärmquelle erzeugt zu haben. …“
Das wäre für mich in meinem Berufsleben das schönste Zeichen, wenn man es schaffen würde eine Straße vom Park zu besetzen, die heute Autobahn ist und Zerschneidung ist – das wäre doch eine Botschaft, mit der ich auch gerne international auftreten würde“.
O-Ton Jörn Walter:
Hamburg entdeckt seine grüne Insel, Stiftung Lebendige Stadt, Kongress 10.-12.September 2008.
Quelle: http://www.lebendige-stadt.de/web/template2neu.asp?sid=218&nid=&cof=216
2009: Die Zeit drängt
Als im September 2009 die Bundestags-Neuwahl die erste Große Koalition unter Merkel beendete, drängte die Zeit. Der Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium und als Stadtplaner Jörn Walters beruflicher Weggefährte Engelbert Lütke Daldrup schloss am 7. Oktober 2009, vor dem Ministerwechsel und damit auch Staatssekretär-Wechsel, mit der Hamburger Senatorin Hayduk eine Finanzierungsvereinbarung über die Wilhelmsburger Reichsstraße ab.
Vereinbarung über die Finanzierung der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße (B4/75)
Die Vereinbarung wurde zehn Monate nach ihrem Abschluss in der Bürgerschaftsdrucksache 19/7116 auch der Bürgerschaft vorgelegt:
Bürgerschaftsdrucksache 19/7116.
Der finanziell relevante Inhalt ist:
- „Die Wilhelmsburger Reichsstraße entspricht in Aufbau und Querschnitt nicht mehr den geltenden Straßenbaustandards… Der schlechte Zustand der Fahrbahn und der Bauwerke erfordert eine grundhafte Erneuerung. …Die Gesamtkosten für einen verkehrsgerechten Ausbau…in der jetzigen Lage wurden mit 57 Mio. € ermittelt.“
- „Die Finanzierungsvereinbarung gilt für den Bau der verlegten Wilhelmsburger Reichsstraße zwischen den Anschlussstellen HH-Wilhelmsburg-Süd und HH-Georgswerder. …Die Bau – und Grunderwerbskoste… werden mit insgesamt 67,4 Mio. € veranschlagt“.
- „Hamburg erklärt sich bereit, einen Beitrag zu den Gesamtkosten … in Höhe von 10,4 Mio. € an den Bund als Festbetrag zu leisten. Durch die Beteiligung Hamburgs an den Kosten und die dadurch erreichte frühzeitige Fertigstellung…entfallen die ansonsten seitens Hamburgs erforderlichen Aufwendungen von ca. 10,4 Mio.€ für Lärmschutzmaßnahmen an der vorhandenen B4/75 für die städtebaulich gewünschte Nutzung IBA/IGS“
Welch ein glücklicher Zufall, entsprachen die veranschlagten Neubaukosten doch gerade der Summe von den veranschlagten Sanierungskosten und der ebenfalls veranschlagten „Ersparnis“, die Hamburg durch die Fertigstellung der WRS bis März 2013 haben könnte.
Der Trick war, den Ausbau zu einer faktisch neuen Autobahn lediglich als eine spezifische Art der einer Sanierung zu behandeln. Bis heute, zum Beispiel im aktuellen Bundes-Haushaltsplan vom 4.5.2018 (Bundestagsdrucksache 125/18, umfasst übrigens 3098 Seiten) wird die Wilhelmsburger Reichsstraße als Instandsetzungsmaßnahme geführt, gleichrangig neben vielen Ersatzneubauten von Brücken.
Januar 2011:
1. „(Teil-)Inbetriebnahme ist zur igs in 2013 möglich“
2. Verdoppelung der Kosten
Aus zwei Jahren Planungs- und Bauzeit werden acht Jahre, aus 67 Mio. € 235 Mio. €.
Im Januar 2011, kurz vor den Bürgerschagftswahlen legte die amtierende Verkehrssenatorin Dr. Gundelach (CDU) einen Nachtrag zur o.g. Drucksache 19/7116 vor. In ihm wurde eine Verdoppelung der Kosten von 67,4 auf 136,3 Mio. € mitgeteilt. Begründet wurde das u.a. mit notwendigen Lärmschutzmaßnahmen und dem Baugrund, die anscheinend völlig unerwartet erkannt worden seien.
Zum Zeitplan wird noch im Januar 2011, in dem noch nicht einmal Unterlagen für die Planfeststellung auslagen, an der Inbetriebnahme 2013 festgehalten.
„Es ist vorgesehen, das Planfeststellungsverfahren Anfang Februar 2011 einzuleiten. Auf der Basis von Plangenehmigungen des Eisenbahnbundesamtes (EBA) sollen erste (zum Teil vorbereitende) Baumaßnahmen im Schienenbereich ab 2011 durchgeführt werden. …Je nach Verlauf des Planfeststellungsverfahrens ist eine (Teil-) Inbetriebnahme bis zur Eröffnung der igs in 2013 möglich. Anderenfalls werden rechtzeitig provisorische Zwischenlösungen ermöglicht.“
2016: Kosten auf das 3,5 fache gestiegen
Nach Amtsantritt der SPD-Regierung wird die Planfeststellung fortgeführt, mittlerweile liegen die angegebenen Kosten bei 235 Mio. €, die angepeilte Eröffnung im Jahr 2019.
Damit sind die veranschlagten Kosten von der Finanzierungvereinbarung zwischen Hamburg und dem Bund am 7.10. 2009 bis 2016 bereits von 67 Mio. auf 235 Mio, d.h. auf das 3 ½ fache gestiegen.
Es gab weder Gerichtsentscheidungen, noch irgendwelche sonstigen äußeren Einflüsse, die Zeitplan oder die Finanzierung durcheinander gebracht hätten. Wenn absurde Zeitpläne vorgestellt werden, nach denen innerhalb von zwei Jahren ein Planfeststellungsverfahren und ein Bau einer Autobahn durchgeführt werden könnten und wenn die Kosten mehr als 3,5 fach überschritten werden, gibt es dafür zwei Erklärungen:
Entweder verstehen die Planer*innen nichts von ihrem Geschäft – oder sie passen ihre Wahrheiten den politisch gesetzten Vorgaben an.
Autor: Michael Rothschuh