In zwei Containern auf der IGS wird unter der Überschrift „Wilhelmsburger Perspektiven“ Reklame für eine Stadtautobahn gemacht.
Die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation hat eine Marketingfirma – puplic:news (u. a. Rittersport-Werbung) – mit der Öffentlichkeitsarbeit für ihre Pläne zum Ausbau und zur Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße beauftragt.
Im ersten Container geht es unter der Überschrift „leiser“ um die Lärmproblematik. Der 2. Container trägt den Titel „Grüner“ und befasst sich mit Stadtentwicklung und die Zukunft des Parks.
Schon der Überblick zu den Projektphasen arbeitet mit eigenwilligen Interpretationen der historischen Wahrheit.
Von Oben nach unten:
2018 :
Eine Freigabe für den Verkehr im Jahre 2018 ist ein sehr sportliches Ziel, wenn bekanntlich frühestens 2017 mit dem Bau begonnen werden kann. Ursprünglich sollte die neue Reichsstraße ja zur Eröffnung von IBA und IGS 2013 längst fertig sein. Realistischer Weise sollte die Behörde mit Prognosen etwas vorsichtiger sein!
Realistisch dagegen ist die Darstellung des Projektes in dem Bild links: Mit Mittelstreifen und je 2 Fahrstreifen mit Standstreifen entspricht das Projekt „in ihren Trassierungselementen allen Ansprüchen einer Vollautobahn“, wie der Wiener Gutachter Prof. Knoflacher in seinem Gutachten von Anfang 2013 befindet. Das wird auch jeder andere unbefangene Betrachter so sehn, auch wenn die Behörde die Aussage, sie plane hier doch eine „Stadtautobahn“, stets empört zurückweist.
2013:
In der Tat ist im Sommer diesen Jahres die Planfeststellung beschlossen worden. Das heißt aber noch lange nicht, dass damit auch mit dem Bau begonnen werden kann. Vorsichtigerweise haben die Akteure des „ersten Spatenstichs“ am 8.8.2013 – Verkehrminister Ramsauer neben Bürgermeister Scholz und Senator Horch – nur „symbolisch“ gestochen und nur für Lärmschutzmaßnahmen auf der Ostseite der Bahn und die Baumaßnahmen an den Gleisen. Die Planfeststellungsbehörde hat eine „sofortige Vollziehung für die Straßenbaumaßnahmen“ ausdrücklich bisher nicht erteilt – und das nicht nur im Hinblick auf die noch nicht abgeschossene Klagefrist.
2012:
Richtig ist, dass 2012 ein „Beratungsgremium des Bezirks Mitte“ mehrfach getagt hat und die kritischen Bürgergruppen darin mitgewirkt haben. Unterschlagen wird allerdings, das die Empfehlungen dieses Gremiums, die dann auch von der Bezirksversammlung Mitte einstimmig unterstützt wurden, nicht im Ansatz Eingang in die Planungen der Behörde gefunden haben.
Entsprechend den Empfehlungen des Wiener Gutachters hatte der Bezirk Mitte eine signifikante Verringerung von Querschnitt und Geschwindigkeit gefordert. Damit wäre aus einer „Vollautobahn“ eine anwohnerverträgliche Stadtstraße geworden, die in Leistungsfähigkeit, Sicherheit und Erträglichkeit der Dimension der bisherigen Wilhelmsburger Reichsstraße entsprochen hätte.
Das Schaubild in der Darstellung 2018 (s.o.) hat sich in keiner Weise verändert. Mit dieser Projektzeichnung ist die DEGES (die im Auftrag der Behörde die Maßnahme projektiert) 2008 vor das Publikum getreten, hat sämtliche sog. „Bürgerbeteiligungsverfahren“ unbeschadet überstanden und kann ohne die geringsten Modifikationen weiter verwendet werden.
2011:
Auch diese Ausstellung 2011 wurde von „public:news“ am Berta Kröger Platz ausgerichtet – begleitend zum Planfeststellungverfahren. Um zu den Planfeststellungunterlagen in einem winzigen Raum am hinteren Ende des ehemaligen Edeka-Ladens zu gelangen, mussten zahlreiche Exponate passiert werden, die mit allen Mitteln modernen Marketings den mündigen Bürger zu beeinflussen versuchten. Auf der IGS – am Ende des „leiser“ – Containers – zeigt public news in einer slideshow recht eindrucksvoll, mit welchen Elementen diese „Informations“ – Ausstellung damals gearbeitet hat.
2009:
Das „Bürgerbeteiligungsverfahren 2009“ wurde von der damaligen Senatorin Anja Hajduk nach massivem Druck aus Wilhelmsburg als „kooperativer Beteiligungsprozess“ eingerichtet. Es hatte allerdings nichts von Kooperation. Veränderungsmöglichkeiten an den präsentierten Planungen gab es zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil: Noch während des laufenden Verfahrens hat die Senatorin eine Finanzierungsvereinbarung mit dem Bund getroffen. Es handelte sich also um einen Versuch, die Bürger „mitzunehmen“, um ein Projekt zur Akzeptanzbeschaffung.
Richtiger Weise hat Frau Hajduk auf einer Einwohnerversammlung zur Hamburger Bürgerschaftswahl am 27.1.2011 im Bürgerhaus Wilhelmsburg später eingeräumt: „Das Beteiligungsverfahren ist gescheitert“.
2002:
Hier versuchen die Autobahnplaner, sich durch einen angeblichen Bürgerwillen während der Zukunftskonferenz zu legitimieren. Nichts könnte falscher sein:
Inspiriert von der Forderung „Zukunftsplan statt Autobahn“ hatten 2001 engagierte Bewohner*innen die Zukunftskonferenz Wilhelmsburg durchgesetzt. Die Verhinderung einer Autobahn „Hafenquerspange“, die als vorrangiges Projekt im Rot-Grünen Hamburger Koalitionsvertrag von 1999 vereinbart worden war, durchzog wie ein roter Faden die Debatten der Zukunftskonferenz und war das zentrale Anliegen des „Weissbuch“, das 2002 bei der Abschlusskonferenz präsentiert wurde. Darin wurde allen in der Koalition diskutierten Trassenvarienten eine eindeutige Absage erteilt und eine Wende in der Hamburger Verkehrspolitik gefordert.
Nur unter dieser Prämisse ist die Forderung der Zukunftskonferenz nach einer Verlegung der B4/75 zu verstehen. Nur unter dieser Voraussetzung kam sie in Frage. Eine Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße im Sinne der damaligen Variante einer Hafenquerspange „Diagonaltrasse Ost“ (gelb gestrichelt auf dem Plan) wurde definitiv und einmütig abgelehnt.
Der von der DEGES 2008 vorgelegte Plan zur Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße war zunächst weitgehend identisch mit der gelben Variante „Diagonaltrasse Ost“ einer „Hafenquerspange“ von 1999. Eine Ablehnung dieser Planung durch die engagierten lokalen Bürgergruppen konnte deshalb nicht überraschen.
Die spätere getrennte Betrachtung der beiden Projekte Hafenquerspange und Wilhelmsburger Reichsstraße durch Senatorin Hajduk ist erst unter massivem Druck aus Wilhelmsburg zustande gekommen. Glaubwürdig war das schon damals nicht.
Die hartnäckige Weigerung der Planungsinstanzen, vom Charakter der geplanten Wilhelmsburger Reichsstraße als „Vollautobahn“ abzurücken, ist eigentlich nur zu verstehen, wenn die Option einer späteren Verknüpfung dieser beiden von der DEGES in Hamburg betriebenen Fernstraßenprojekte weiterhin offengehalten werden soll.
Die Exponate zur Lärmproblematik im Container: „leiser“:
Einige Anmerkungen dazu:
Die gesundheitlichen Folgen von Lärm sind anschaulich dargestellt. Die wichtigsten Lärmquellen in Wilhelmsburg und Veddel sind: die Autobahn A1, die Bahntrasse, die Wilhelmsburger Reichsstraße, die Hauptrouten im Hafen (wie Veddeler Damm, Am Saalehafen), Hafenrandstraße, Harburger Chaussee und der Hafenlärm ganz allgemein. Überall besteht dringender Handlungsbedarf. Lärmminderungsmaßnahmen an der Ostseite der Bahn (bestehend aus S-Bahn, Fernbahn und Güterbahn) haben höchste Priorität – unbestritten.
Schwer zu begreifen ist allerdings, dass dort Wände zur Lärmminderung angeblich nur gebaut werden können, wenn zuvor der Lärm durch eine zusätzliche Lärmquelle in Form einer 28 Meter breiten Fernstraße erhöht wird. Also: Ihr bekommt Lärmminderung nur durch Lärmvermehrung.
Weiterhin: Lärmvermeidung geht vor Lärmminderung. Der beste Lärm ist der, der garnicht entsteht. Für Straßen heißt das: Verkehrsdichte und Geschwindigkeit sind die Hauptfaktoren für Lärmentstehung. Im Einklang mit dem Gutachter Prof. Knoflacher haben die Gremien im Bezirk Mitte deshalb für die Beibehaltung des jetzigen Querschnitts von 14 Metern und maximal Tempo 60 kmh plädiert.
Zu berücksichtigen ist die mittlerweile veränderte Situation: Die derzeitigen Maßnahmen zur Lärmminderung an der bestehenden Wilhelmsburger Reichsstraße sind hoch effektiv. Durch offenporigen Asphalt, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 50 und Lärmschutzwände konnte die Lärmbelastung dort auf unter 60 dB(A) reduziert werden. Auf dem Gartenschaugelände ist – für viele überraschend – die Reichsstraße kaum noch zu hören. Selbst klassische Konzerte sind ein ungetrübter Genuß.
Die Lärmkarten der Ausstellung sind überholt. Eine Verlagerung der Straße ist mit Lärm nicht mehr zu begründen.
Der fiktiven Lärmprobe in der Ausstellung kann erfreulicherweise eine Hörprobe von der Wilhelmsburger Reichsstraße mit Flüsterasphalt gegenübergestellt werden:
Video mit Hörprobe auf youtube
Überraschend, aber ebenso erfreulich ist, dass nach dem „Ersten Spatenstich“ der Bau der Lärmschutzwand an der Ostseite der Bahn in Kürze beginnen soll, obwohl die Straßenbaumaßnahmen frühestens ab 2017 möglich sind.
Damit ist der Bau der Lärmschutzwand de facto von dem Verlagerungsprojekt der Wilhelmsburger Reichsstraße abgekoppelt. Dies bietet die Chance für die Neubewertung des Projektes unter Berücksichtigung der veränderten Rahmenbedingungen und einer integrierten Planung von Stadt und Verkehr.
Die Exponate zum Thema Stadtentwicklung im Container: „grüner“:
Zum Thema Unfallschwerpunkt und grüne Perspektiven auch hier einige Anmerkungen:
Nach Bau der Mittelplanken aus Beton ist die Wilhelmsburger Reichsstraße eine vergleichsweise sichere Verkehrstrasse mit unterdurchschnittlichen Unfallzahlen. Die örtliche Polizei dagegen warnt vor Unfallschwerpunkten nach einer möglichen Verlagerung der Trasse – vor allem als Folge der neuen geplanten Ausfahrt in Höhe der Rotenhäuser Straße. Sowohl im Westen an der Dratelnstraße, als auch im Osten Thielenstraße/ Krieterstraße würden die Zubringerverkehre durch hochsensible Gebiete geleitet: im Westen liegt der große Gewerbeschulkomplex, im Osten würde er quasi über den Schulhof der neuen Tor zur Welt Schule geführt.
Ein durchgehender Inselpark als Grüne Lunge und eine Renaturierung ist sicherlich eine attraktive Vision. Zumindest die Abgase des dann erhöhten Verkehrsaufkommens landen allerdings weiter im Osten, wo die großen Wohngebiete östlich der Bahn stärker belastet würden.
Die Vision ist das eine. Da mit einer Fertigstellung – wenn überhaupt – frühestens 202o zu rechnen ist, gilt es für die Zeit nach der Gartenschau, die Annehmlichkeiten für die vielen Gäste, auch für die verbleibende Wohnbevölkerung zu sichern. Bleiben müssen:
- Tempo 50
- Die Lärmschutzwände
- Die barrierefrei Brücke zur Querung der Reichsstraße
Der Park muss – uneingeschränkt – wieder für alle öffentlich zugänglich gemacht werden. Wir brauchen wieder die kurzen Wege, wir brauchen wieder unsere Radwege.
Fazit: Die Gartenschau lässt sich hier von der Wirtschaftsbehörde für eine Werbekampagne mißbrauchen. Teilweise längst überholt, unsolide recherchiert oder mit einseitiger Darstellung. Für ein Projekt, das möglicherweise nie realisiert werden kann, ein Projekt, das viele für verkehrspolitischen Anachronismus, städtebaulichen Unsinn und eine massive Verschwendung von Steuergeldern halten.
Die IGS wäre gut beraten, die beiden Werbecontainer zu schließen oder sie für den letzten Wochen den Kritikern dieses umstrittenen Projektes zur Verfügung zu stellen.