update 24.9.2020:
Neue Erkenntnisse aus dem Protokoll des Gesundheitsauschusses der Bürgerschaft vom 25.8.2020 und andere Informationen machten eine Aktualisierung und Erweiterung der Thesen auf 12 erforderlich. Diese erweiterte Version als findet sich am Ende des Artikels.
Lutz Cassel für den Beirat für Stadtteilentwicklung in Wilhelmsburg und Manuel Humburg für den Verein Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg haben gemeinsam 10 Thesen für den Erhalt des Wilhelmsburger Krankenhauses und seiner Pflegeschule formuliert. Damit wollen sie einen Beitrag für die aktuelle Debatte über „Groß Sand“ in Hamburg leisten.
Gezielt haben sie damit u.a. die Mitglieder des Gesundheitsausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft angeschrieben. Diese wollen bei ihrer Sitzung am 25.8.2020 die aktuelle Lage um das Klinikum Groß Sand erörtern.
Das Klinikum „Groß-Sand“ muss als Allgemeines Krankenhaus erhalten bleiben! Keine Schließung der Pflegeschule!
10 Thesen aus Wilhelmsburger Sicht
1. Das Krankenhaus „Groß-Sand“ ist seit über 130 Jahren eng mit Wilhelmsburg verknüpft
Entstanden ist es als Betriebskrankenhaus der Hamburger Wollkämmerei am Reiherstieg. Hier arbeiteten vor allem Menschen polnischer Abstammung mit katholischer Religionszugehörigkeit, die im Rahmen der Industrialisierung der Elbinsel eingewandert waren.
Dieser besondere Blick auf die speziellen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen vor Ort zeichnet das Krankenhaus und seine Mitarbeiter*innen bis heute aus.
2. „Groß-Sand“ ist ein Allgemeines Krankenhaus der Grund- und Notfallversorgung für bald 70 000 bis 80 000 Menschen
Wilhelmsburg ist nicht nur der flächenmäßig größte Stadtteil Hamburgs sondern auch einer der am stärksten wachsende. Seit dem Jahr 2000 ist der Stadtteil, nicht zuletzt dank des Senatsprogramms vom „Sprung über die Elbe“, um 10.000 Menschen auf 55 000 Menschen gewachsen. In der Wilhelmsburger Mitte, im Bahnhofsviertel und in Georgswerder sollen in den nächsten Jahren ca. 7 000 neue Wohnungen realisiert werden. Damit werden wir absehbar zwischen 70 000 bis 80.000 Menschen auf der Elbinsel sein. Dazu kommen die Veddel und andere angrenzende Gebiete.
Während es in Hamburg nördlich der Elbe 40 Krankenhäuser gibt, werden südlich der Elbe fast 300.000 Menschen von zur Zeit nur drei Krankenhäusern versorgt.
3. Die Insellage, die Nähe zu Gewerbe, Industrie und Gefahrgut-Betrieben und die die Elbinsel querenden großen Verkehrstrassen erfordern ein leistungsfähiges Notfall-Krankenhaus vor Ort
Die große Flut von 1962, mit über 200 Toten allein in Wilhelmsburg, ist noch lange nicht vergessen. Damals war der Stadtteil mehrere Tage komplett von Hamburg abgeschnitten. Auch später noch, z.B. 1976, retteten sich viele nach Groß-Sand, als der Hafen mal wieder unter Wasser stand.
Nirgendwo in der Stadt liegen Wohngebiete sowie Gewerbe und Industrie so nah beieinander wie auf der Elbinsel. Die Wohngebiete sind geradezu umzingelt von Gefahrgut-Lagern und Gefahrgut-Betrieben. Großbrände in der Schlenzigstraße und auf der Hohen Schaar nahe der Shell Raffinerie, eine Explosion in der Industriestraße. Das waren nur einige der Feuerwehreinsätze in den letzten Jahren.
Wilhelmsburg – Hafen und Stadt zugleich – ist besonderen Gefahren ausgesetzt und gibt es viele tausende Menschen, die bei Not- und Unfällen auf schnelle medizinische Hilfe angewiesen sind. Schnelle Hilfe aber heißt, kurze Wege, die auch bei Sturmfluten oder bei den regelmäßigen Verkehrsstaus auf den Elbbrücken passierbar sind.
4. Seit Jahren gibt es eine gute Zusammenarbeit zwischen ambulanter und stationärer Medizin in Wilhelmsburg
Viele der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte im Stadtteil arbeiten schon jetzt am Limit.
Das liegt an der, im Vergleich zu anderen Stadtteilen, geringeren Arztdichte.
Anhaltend hohe soziale Problemlagen und Sprachbarrieren bei vielen Patienten erfordern von den Ärztinnen und Ärzten hohe psychosoziale Kompetenz und großen Zeitaufwand.
Da kann es keine Konkurrenz mit dem Krankenhaus geben. Die Angebote ergänzen sich. Die kurzen Wege und das persönliche Gespräch kennzeichnen die gute Kooperation.
Mehrere Ärztinnen und Ärzte absolvierten in Groß-Sand Teile ihrer Ausbildung um sich danach im Stadtteil niederzulassen. Ebenso eng ist die Zusammenarbeit zwischen ambulanter und stationärer Pflege.
Vor ein paar Jahren ist auf dem Gelände des Krankenhauses ein Anbau errichtet worden für zwei medizinische Versorgungszentren: Ein allgemeinmedizinisches und ein orthopädisch-chirurgisches. Auch dies ist ein Beispiel für die bestehende gute Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Medizin.
5. Die Coronakrise unterstreicht die Bedeutung wohnortnaher und flächen-deckender stationärer Betreuung und zeigt: Gesundheit darf keine Ware sein
Deutschland ist bisher vergleichsweise gut durch die Coronakrise gekommen. Als wesentlicher Faktor werden Quantität und Qualität des deutschen Gesundheitssystems hervorgehoben. Vor wenigen Wochen wäre es noch undenkbar gewesen über die Schließung eines Allgemeinen Krankenhauses überhaupt nachzudenken. An anderen Stellen Deutschlands wurden kürzlich geschlossene Krankenhäuser kurzfristig wieder reaktiviert (z.B. in Nordhessen).
„Groß-Sand“ ist für die meisten fußläufig erreichbar und steht im Notfall Tag und Nacht bereit. „Eine Insel der Menschlichkeit“, ein Anker für Sicherheit und Geborgenheit. Es gibt in Wilhelmsburg bei allen Bevölkerungsgruppen ein großes Vertrauen zu seinem Kranken-haus im Stadtteil. Vertrauen ist die Basis für Stadtteilgesundheit, die sich Hamburg mit dem Programm „Gesunde Stadt“ zum Ziel gemacht hat. Bei Corona zeigt sich dies in besonderer Weise.
6. Die derzeitige Krankenhausfinanzierung über Fallpauschalen (DRG) setzt vor allem kleine Krankenhäuser unter Druck. Sogenannte Gesundheits-ökonomen fordern deshalb die Konzentration auf profitable Bereiche und damit die Abwicklung von 800 der 1.400 deutschen Krankenhäuser
So werden bei der Krankenhaus-Abrechnung nicht das Vorhalten bestimmter Kapazitäten (z.B. Beatmungsgeräte) oder der tatsächliche Zeitaufwand mit dem Patienten (das klärende oder tröstende Gespräch) belohnt, sondern z.B. operative Eingriffe.
In einer Studie forderte die Bertelsmann Stiftung 2019 die Konzentration auf hochspezialisierte Zentren, die bessere Leistungen vorhalten könnten, als die kleinen Kliniken in der Fläche. Eine solche Position haben bis vor der Corona-Krise auch Gesundheitsminister Spahn und der Gesundheitssprecher der SPD Karl Lauterbach eingenommen. Nach der Erfahrung mit der Corona-Pandemie wirkt sie heute absurd.
Richtig ist, dass Herzinfarkte und Schlaganfälle geeignete Zentren mit Herzkatheter bzw. Stroke-units benötigen. Auch schwere Unfälle und Krebserkrankungen werden auch heute schon in spezialisierten Kliniken behandelt. Das betrifft aber nur relativ wenige Patienten. Die Aufgaben der Krankenhäuser der Grund-und Regelversorgung entfallen dadurch bei weitem nicht. Sie behandeln Unfälle, Infektionen, Blutungen, entgleisten Diabetes, Erkran-kungen der Atemwege, Medikamentennebenwirkungen, Vergiftungen, Bluthochdruck und psychische Ausnahmezustände. Das gelingt wohnortnah besser und kostengünstiger.
7. Auch privat geführte Krankenhäuser sind eine öffentliche Aufgabe
Nach der Privatisierung der allgemeinen Hamburger Krankenhäuser 2004 gibt es in Hamburg – außer dem UKE – keine Krankenhauseinrichtungen mehr in öffentlicher Hand. Gleichwohl sind im aktuellen Hamburger Koalitionsvertrag für die Krankenhaus-finanzierung 2 Milliarden Euro vorgesehen. Wie passt das zusammen? In der Tat ist die öffentliche Hand weiterhin für Neubau und Unterhalt der Infrastruktur der privaten Krankenhäuser verantwortlich. Bürgermeister Tschentscher hat mehrfach die geplante öffentliche Investition von 400 Millionen Euro für einen Neubau des Altonaer Krankenhauses gewürdigt.
Auch im Krankenhaus Groß-Sand gibt es einen Investitionsstau, für den allerdings bisher keine öffentliche Kostenbeteiligung vorgesehen ist. Was spricht dagegen, auch dies durch eine entsprechende Änderung der Rahmenbedingungen zu ermöglichen? Auch hier kann und muss Hamburg Verantwortung übernehmen. Eine klares Bekenntnis von Bürgermeister Peter Tschentscher und der zuständigen Sozialsenatorin Melanie Leonhard, die bekanntlich in Wilhelmsburg aufgewachsen ist, zur Unverzichtbarkeit eines allgemeinen Krankenhauses für die Elbinsel wäre in dieser Zeit der Verunsicherung ein sehr wichtiges Signal.
8. Unklar bleibt weiterhin, welche Ziele das Erzbistum als Träger des Krankenhauses und das derzeitige Krankenhausmanagement verfolgen
Im Hamburger Abendblatt vom 15. Juli 2020 wurde berichtet, „es gibt Pläne, Groß-Sand zu einem Gesundheitszentrum auszubauen, in dem vor allem ambulante Leistungen angeboten werden – mit angegliedertem Klinikbetrieb“. Dafür sei ein weiteres Medizinisches Versorgungszentrum angedacht sowie an einen „Gesundheitskiosk“, wie er bereits in Billstedt existiert.
Diesen Überlegungen ist das derzeitige Management bisher nicht entgegengetreten.
Auch nicht im Schreiben der Geschäftsführung vom 11. August an die Klinik-Mitarbeiter*innen.
In einer Pressemitteilung vom 13.8.2020 weist die Krankenhausleitung „alle Gerüchte um Schließung zurück“. Gleichzeitig verweist sie auf ein „Sanierungskonzept der Klinikleitung“, in dem „die Strukturen des Hauses auf dem Prüfstand stehen“.
Warum legt die Klinikleitung dieses Sanierungskonzept nicht auf den Tisch? Warum legt das Management nicht offen, ob bzw. welche Anträge sie bei den Aufsichtsbehörden zur Umstrukturierung des Hauses bereits eingereicht hat?
Erhalt des Hauses als Allgemeines Krankenhauses zur Grund-und Notfallversorgung in Wilhelmsburg bedeutet: Wir brauchen weiterhin ein Klinikum mit einer leistungsfähigen chirurgischen und medizinischen Abteilung einschließlich einer rund um die Uhr geöffneten Klinikambulanz! Das sind die tragenden Strukturen des Hauses. Auf dieser Grundlage darf über Ergänzungen und Ausbau für weitere Bedarfe im Stadtteil gerne nachgedacht werden.
9. Die geplante Schließung der Krankenpflegeschule Groß-Sand bedeutet eine Verschlechterung der Krankenpflegeausbildung für den gesamten Hamburger Süden und ist das Gegenteil einer vertrauensbildenden Maßnahme
In dem Brief der Geschäftsleitung vom 11.8. wird um Vertrauen gebeten, die Schließung der Krankenpflegeschule aber mit keinem Wort erwähnt. Offenbar hat die Krankenhausleitung vollendete Tatsachen geschaffen, ohne weder die betroffenen Schülerinnen und Schüler noch die Lehrkräfte in irgendeiner Weise zu beteiligen. Dagegen wurde am 11. August mit einer eindrucksvollen Kundgebung unter dem Motto „Was gut ist soll bleiben!“ demonstriert.
Gegen den Pflegenotstand hilft kein Lamentieren, sondern nur der Erhalt und der Ausbau von Ausbildungseinrichtungen.
Erst jetzt wurde bekannt, dass es 2 Projekte für den Ausbau der Pflegeschule gab, die vom jetzigen Geschäftsführer gekündigt wurden:
Zum einen gab es eine Kooperation im Rahmen einer Profilklasse zwischen der Stadtteilschule Wilhelmsburg und dem Krankenhaus.
Zum anderen gab es Pläne, die Ausbildungskapazitäten auf 210 Plätze mit einem differenzierten Angebot (Duales Studium) auszubauen, um den Pflegekräften auch Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten. Mit diesem „Pilot-Projekt Pflege-Campus Wilhelmsburg“ sollten die Nachwuchskräfte bewusst aus dem Stadtteil rekrutiert werden. Das Angebot sollte sich gezielt an die vielen jungen Menschen mit Migrationshintergrund im Stadtteil richten.
Ausbau und Qualifizierung der Pflegeschule – wäre das nicht sinnvoller als die jetzt geplante Schließung des Ausbildungsstandortes?
10. Groß-Sand muss als Klinikum der Grund- und Notfallversorgung für Wilhelmsburg erhalten bleiben! Auch die Pflegeschule muss bleiben!
Der Protest zeigt bereits erste Erfolge.
Die Krankenhausleitung überwindet mit ihrem Schreiben vom 11. August ihre wochenlange Sprachlosigkeit und formuliert immerhin ein allgemeines Bekenntnis zum Erhalt von „Groß-Sand“ als Krankenhaus.
Eindeutige Unterstützung kommt vom Bundestags-Abgeordneten Metin Hakverdi und der lokalen Politik. Der Gesundheitsausschuss der Bürgerschaft befasst sich mit der Thematik am 25. August.
Eine Lenkungsgruppe, bestehend aus Behörde, Politik, Krankenkassen, Kassenärztlicher Vereinigung, Bistum und Krankenhausleitung, ist geplant. Dies zeigt, dass sich die Verantwortlichen an einen Tisch setzen wollen. Allerdings muss gefragt werden, warum in diesem Gremium die Mitarbeiter*innen ebenso wenig vertreten sind wie die Gremien aus dem betroffenen Stadtteil Wilhelmsburg.
Die Verantwortlichen sind gut beraten, davon auszugehen, dass sich der Protest in der Belegschaft und im Stadtteil noch erheblich steigern wird.
Dabei wird die Öffentlichkeit sehr genau darauf achten, dass mit den vorgesehenen Umstrukturierungen nicht nur Etikettenschwindel betrieben wird. Die Abteilungen für Chirurgie und Innere Medizin und die allgemeine Unfall- und Notfallambulanz sind unverzichtbar!
Außerdem klingt es wie ein Schildbürgerstreich, wenn es ausgerechnet der Chirurgie mit ihrem national und international renommierten Hernienzentrum (Leisten- und Bauchwandbruch-Chirurgie) an den Kragen gehen soll.
Eine Schließung oder ein substantieller Abbau von Groß-Sand sind im Stadtteil Wilhelmsburg nicht durchsetzbar.
Wilhelmsburg wird um sein Stadtteilkrankenhaus kämpfen. Groß-Sand bleibt!
Die Thesen zum Erhalt des Klinikums Groß-Sand und seiner Pflegeschule in einem gemeinsamen Brief von Beirat für Stadtteilentwicklung Wilhelmsburg und Verein Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg als pdf.
Neue Erkenntnisse aus dem Protokoll des Gesundheitsausschusses vom 25.8.2020 und andere Informationen machten eine Aktualisierung und Ergänzung auf 12 Thesen erforderlich:
24-09-2020_Klinikum-Gross-Sand-bleibt 12 Thesen
MoPo vom 21.8.2020: „Jetzt kommt Unterstützung für die Azubis“ berichtet über die 10 Thesen:
Bericht im Hamburger Abendblatt 24.8.2020:
Einen Bericht über die Demonstration am 11.8.2020 mit Fotos, Redebeiträgen und Pressemeldungen findest Du hier
Weitere Informationen über die Lage in und um das Krankenhaus „Groß Sand“ mit Presseberichten, offenen Briefen, Rundschreiben etc. findest Du hier
Wie alle Papiere des Vereins Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg gut durchdacht.
Wenn man die Elbinsel als einen der wichtigsten Entwicklungsbereiche im Herzen Hamburg – nicht an der Peripherie – stärken und zukunftsfähig machen will, muss man seine Infrastruktur erhalten und weiterentwickeln.
Gerhard Bolten