Die neue Wilhelmsburger Reichsstraße – einige Gedanken zur Eröffnung

Wie in ganz Wilhelmsburg: Auch in unserem Verein wurde und wird die neue Wilhelmsburger Reichsstraße kontrovers diskutiert.

Die neue Wilhelmsburger Reichsstraße

Einige Gedanken anlässlich der Eröffnung zum 7. Oktober 2019

von Manuel Humburg

Die „Stadtautobahn“:

In der Presse wird die neue Trasse überwiegend als „Stadtautobahn“ bezeichnet. Verständlich: So sieht eine Autobahn aus. Und schon der ursprüngliche Auftrag im Jahre 2008 an die DEGES lautete: Verlegung als Autobahn! An dieser Planung entzündete sich der Protest. Zumal gleichzeitig die Pläne für die ebenfalls als Autobahn geplante Hafenquerspange im Süden der Insel bekannt wurden. Wie passte diese drohende „Autobahnisierung“ zum Ziel des „Sprunges über die Elbe“: die Elbinsel Wilhelmsburg als einen guten Ort zum Wohnen zu entwickeln? Und: Für das Klima und verkehrspolitisch waren weitere Autobahnen schon damals ein verheerendes Signal!

IBA-Plan 2007: „Boulevard statt Bollwerk“:

Die IBA-Hamburg propagierte ursprünglich den Rückbau der Wilhelmsburger Reichsstraße zu einem „Boulevard“, einer Stadtstraße zur Erschließung der neuen geplanten Wohngebiete in der Wilhelmsburger Mitte. Dieser Vorschlag fand die einhellige Zustimmung aller im Ortsausschuss Wilhelmsburg vertretenen Parteien. Der Traum hatte nur eine kurze Halbwertzeit und wurde alsbald von der Verkehrsbehörde wieder kassiert.

Die Kosten:

Für ihre Zustimmung wurden den Abgeordneten der Bürgerschaft Kosten von lediglich 67,4 Millionen suggeriert. Jetzt bei Fertigstellung liegen sie bei 318 Millionen. Das ist ein Faktor von 4,7! Als Hauptgrund gilt der schwierige Baugrund mit seinen „organogenen Weichschichten“. Was sonst hatte man bei einer Marscheninsel denn erwartet?

Der Zeitplan:

Den Abgeordneten wurde eine Fertigstellung bis 2013 versprochen, da die für 2013 geplante Gartenschau nur mit einer verlegten Wilhelmsburger Reichsstraße vorstellbar sei. Tatsächlich konnte 2013 erst mit dem Bau begonnen werden.

Die „Bürgerbeteiligung“ 1:

Nach Protesten, u.a. mit einer Großdemonstration von 2000 Menschen am 31.10. 2009 gegen die drohende Autobahnisierung der Insel (auch unser Bundestagsabgeordneter Ulli Klose war dabei), war die damalige Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk zu einem „Kooperativen Beteiligungsprozess“ bereit.
Dabei wurde von der Senatorin allerdings eklatant gegen die Mindeststandards für Bürgerbeteiligung verstoßen: Noch vor Abschluss des Beteiligungsverfahrens unterschrieb sie einen Vertrag mit dem damaligen Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Engelbert Lütke-Daltrup. Und auch im Hinblick auf die Hafenquerspange war die Behörde zu keinerlei Kompromiss bereit.

Die „Bürgerbeteiligung“ 2:

Im Jahre 2012 initiierte Bezirksamtleiter Andy Grote ein bezirkliches Beratungsgremium zur Wilhelmsburger Reichsstraße. Auf der Grundlage eines vom gemeinsam berufenen Gutachter Hermann Knoflacher aus Wien erarbeiteten Vorschlages entstand ein einhelliger Kompromiss in diesem Gremium: Einerseits Zustimmung zur Verlegung an die Bahn mit dem Entstehen neuer Räume für die Stadtentwicklung und gleichzeitig Sicherstellung, dass hier eine Stadtstraße und keine neue Stadtautobahn mitten durch die Siedlungsgebiete realisiert werden darf. Dieser, dann auch von der Bezirksversammlung Hamburg- Mitte übernommene Kompromiss, wurde anschließend von Senat und Bürgerschaft komplett wieder kassiert.

Folgen für den nachrangigen Verkehr:

Die Anschlussstelle Wilhelmsburg Mitte ist einige hundert Meter nach Norden, an die Rotenhäuser Straße, verlegt worden. Das hat den Ausbau der parallel verlaufenden Dratelnstrasse zur Folge. Diese verläuft durch die neuen Wohngebiete in der Wilhelmsburger Mitte und wird somit zu einer Autobahnauffahrt u.a. für „Schwerlastverkehre mit Hafenbezug“.

Eine Entlastung der Wilhelmsburger Mitte findet somit nicht statt. Die Verkehre mit Ziel oder Quelle Reichsstraße/B75 laufen weiterhin zwischen Bürgerhaus und Rathaus auf Mengestraße und Neuenfelder Straße, um dann zusätzlich die Dratelnstraße zu belasten. Hier befindet sich der Berufsschulkomplex, ein großes Studentenwohnheim und eine Kreuzung mit dem viel befahrenen Fahrradschnellweg „Loop“. Zusätzlich sollen hier mehrere tausend neue Wohnungen entstehen. Alternativ kann noch über die enge Thielenbrücke und das jetzt schon völlig überlastete Bahnhofsviertel ausgewichen werden.

Die isolierte Planung einer autobahnähnlichen Durchgangsstraße ist das Gegenteil einer integrierten Verkehrs-und Siedlungsplanung. Bei verstärktem Wohnungsbau und wachsender Bevölkerung führt dies zwangsläufig  zu Engpässen, Konflikten und allgemeinem Verdruss.
Man darf gespannt sein, wie sich der Verkehr in den nächsten Wochen in der Wilhelmsburger Mitte entwickeln wird.

Doppeltrasse als Sicherheitsrisiko:

Über mehrere Kilometer ist mitten durch Wilhelmsburg eine komplexe Doppeltrasse aus Straße und Bahngleisen entstanden, die europaweit einmalig sein dürfte: Den engen Raum teilt sich die Schnellstraße mit bis zu 12 Eisenbahngleisen: Für S-Bahnen, Metronom, Fernbahnen und Güterbahnen. Dazu gehören auch Abstellgleise für hafenbezogene Gefahrguttransporte, u.a. mit Brand- und Explosionsgefahr. Ein Unfall, ein Brand, eine Explosion: Die Folgen für die angrenzenden Wohngebiete können dramatisch sein. Und vor allem stellt die verdichtete und komplexe bauliche Situation höchste Ansprüche an Flucht- und Rettungswege für Bahnpassagiere und Autofahrer.

Bei der Planfeststellung und in den Beratungsgremien wurde von Polizei und Feuerwehr einerseits, aber auch und von Bürgerinnen und Bürgern mehrfach auf die hier dringend erforderlichen hohen Sicherheitsstandards hingewiesen. Eine aktuelle Analyse zu den Flucht- und Rettungswegen von Prof. Michael Rothschuh kommt zu dem Ergebnis, dass in mehrfacher Hinsicht gravierende Sicherheitsmängel bestehen und dringend entsprechende Nachrüstungen erforderlich sind.

Zukunft der alten Trasse:

Eine ergebnisoffene Debatte über die Nachnutzung der jetzt nicht mehr benötigten Trasse der Wilhelmsburger Reichsstraße hat es bedauerlicherweise nicht gegeben. Die IBA-Hamburg GmbH kündigt einen baldigen Rückbau der alten Trasse an, um Platz für Wohnungsbau zu schaffen. Damit sind alle Träume von einer Barriere freien Veloroute, einer oberirdischen Stadtbahn/U-bahn in den Hamburger Süden oder auch einer Kombination von beidem vom Tisch.
Die Vorgabe, 5400 Wohneinheiten in der Wilhelmsburger Mitte zu konzentrieren, statt auch in peripheren Lagen der Elbinsel Stadtentwicklung und Wohnungsbau zu ermöglichen, lässt wenig Spielraum für intelligente Infrastruktur und innovative Verkehrsprojekte.


 

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